Mit dem Ausgang der Krimkrieges verlor Russlandnicht nur seine bsilang starke Position im Orient, sondern gehörte auch seine Schiedsrichterrolle in deutschen Angelegenheiten der Vergangenheit an. Während die zaristische Regierung bereit war, letzteres zu akzeptieren, wollte sie am Schwarzen Meer die nue Ordnung aber schnellstmöglichst einer Revision unterziehen. Als Hauptgegner dort wurden Großbritannien und Österreich betrachtet, so dass sich St. Petersburg um die Annäherung an das Frankreichs Napoleons III.bemühte. Als sich dieses 1859 anschickte, die Habsburgermonarchie zu zerschlagen, hielt sich Russland aber zurück. Im Hinblick auf die eigenen Völkerschaften wünschte es nämlich den Erhalt Österreichs. So verweigerte sie Russland seinen Kriegseintritt und trug dazu bei, das konservative Glacis in Mitteleuropa zu erhalten.
Der polnische Aufstand von 1863
Die Niederlage im Krimkrieg hatte die russische Führung dazu bewogen, ihrem Land eine Reformpolitik zu verschreiben. Sie bemühte sich dabei um eine breite gesellschaftliche Unterstützung. Dies schloss auch Zugeständnisse an die polnische Nationalbewegung ein. Diese Politik scheiterte freilich. Die den Polen gemachten Vergünstigungen riefen im Januar 1863 einen Aufstand hervor. Zu seiner Unterstützung setzte sich Frankreich für die Wiederbelebung der Krimkriegskoalition ein. Tatsächlich konnten Großbritannien und Österreich für Noten an die Adresse St. Petersburgs gewonnen werden. In ihnen wurden weitere Reformen in Polen verlangt. Damit aber endeten die Gemeinsamkeiten. Österreich sah durch eine Intervention in Polen seine Herrschaft über Galizien bedroht. Großbritannien hingegen war nicht länger an einem unabhängigen Polen interessiert.
Russlandfreundlich reagierte nur die preußische Führung unter Bismarck. Sie verurteilte den Aufstand und sagte dem Zarenreich volle Kooperation bei seiner Bekämpfung zu. Tatsächlich konnte die Erhebung von Russland unterdrückt werden. In seinem Nachgang wurde das gesellschaftliche Leben Polens russifiziert. Frankreich wiederum galt abermals als Hort des revolutionären Nationalitätenprinzips. Um diesen einzudämmen, bemühte sich Russland um die erneute Zusammenarbeit mit Preußen und Österreich.
Verschiebung des Gleichgewichtes in Mitteleuropa
Diese war dringend nötig geworden. Beide Staaten hatten Dänemark 1864 Schleswig-Holstein entrissen. Aus russischer Sicht hatten sie sich dabei zu Komplizen der deutschen Nationalbewegung gemacht. Dies ließ den Durchbruch der Nationalliberalen in Deutschland befürchten. Um ihn zu verhindern, wollte St. Petersburg Berlin und Wien auf die Konservierung des politischen Status quo festlegen. Dies aber erwies sich als nicht möglich, da beide nach der Vorherrschaft im Deutschen Bund strebten. Die Eskalation des Konfliktes musste unweigerlich die dortigen Kräfteverhältnisse tangieren: Entweder hätte ein Krieg einen übermächtigen klein- bzw. großdeutschen Staat zur Folge gehabt. Oder aber er endete unentschieden. Dann würde Frankreich in Mitteleuropa die Schiedsrichterrolle übernehmen. Dem Zarenreich fehlten die finanziellen und militärischen Ressourcen, um Preußen wie Österreich zur Räson zu zwingen und Frankreich zu trotzen.
Das Gleichgewicht der Kräfte in Mitteleuropa verschob sich durch den Ausgang der Schlacht bei Königgrätz im Juli 1866 massiv zu Gunsten Preußens. Russland wollte die alten Kräfteverhältnisse wiederherstellen und bemühte sich deshalb um ein Zusammengehen mit Frankreich und Großbritannien: Ein europäischer Kongress sollte Berlin seine territorialen Gewinne wieder nehmen. Die russische Offerte wurde aber von London und Paris abgelehnt und es blieb beim neuen Status quo. Aus russischer Sicht kam es sogar noch schlimmer, denn der Habsburgerstaat gewährte den Magyaren 1867 im Rahmen der neuen Monarchie Österreich-Ungarn einen eigenen Teilstaat, während die galizischen Polen Autonomie erhielten. Russland sah dadurch seine eigene Stellung in Polen unmittelbar gefährdet.
Russisch-Preußische Kooperation
Da sich das Rad der zeit nicht zurückdrehen ließ, suchte Russland auf dem Balkan nach Kompensationen für die machtpolitische Stärkung Preußens. Serbien, Griechenland, Rumänien und Montenegrosollten ihre unter dem osmanischen Joch lebenden Ko-Nationalen befreien und dadurch Russland den Weg durch die Meerengen ebnen. Frankreich stellte sich hierbei als Hauptgegner heraus und versuchte die Donaumonarchie nach den Donaufürstentümern und Serbien abzudränge, wo sie zweifelsohne mit dem Zarenreich zusammenstoßen musste. Als Folge dessen stellten sich Frankreich und Österreich-Ungarn der von Russland betriebenen Revolutionierung der Balkanvölker erfolgreich entgegen. Daher näherte sich Russland Preußen an, welches sich aufgrund der deutschen Frage zeitgleich mit Paris und Wien im Konflikt befand.
Im Juli 1870 brach der Deutsch-Französische Krieg aus. Russland ließ Truppen an der galizischen Grenze aufmarschieren und hinderte die Habsburger daran, Preußen in den Rücken zu fallen. Dies begünstigte den preußischen Sieg über Frankreich und die Ausrufung des deutschen Kaiserreiches im Januar 1871 in Versailles. Bismarck erwies sich als zuverlässig und gab dem Zarenreich Rückendeckung bei dessen Aufkündigung der das Schwarze Meer betreffenden Klauseln des Pariser Friedensvertrages von 1856.
Eine antipreußische Tripelallianz?
Das 1871 aus der Taufe gehobene Deutschen Reich wurde von Russland als überlegene Militärmacht verstanden, welches sich über kurz oder lang gegen die baltischen Provinzen wenden würde. Um Berlin einzudämmen bot sich die Allianz mit Frankreich und Österreich-Ungarn an. Bismarck wiederum erwartete, dass eine solche Triple-Allianz versuchen würde, die Ergebnisse der Einigungskriege wieder rückgängig zu machen. So gedachte er sie bereits in der Entstehungsphase zu torpedieren. Die Donaumonarchie und das Zarenreich sollten durch Garantie der Grenzen von einer antipreußischen Parteinahme abgehalten, Frankreich hingegen militärisch kaltgestellt werden.
Dies führte 1875 zur “Krieg-in-Sicht-Krise”. Sie endete mit einer diplomatischen Niederlage des deutschen Reichskanzlers. So intervenierten die anderen europäischen Großmächte zugunsten Frankreichs. Das befürchtete Bündnis aus Russland, Frankreich und Österreich-Ungarn bildete sich aber nicht. Denn Wien verabschiedete sich von Mitteleuropa und fokussierte sich ganz auf den Balkan, wo es der preußisch-deutschen Unterstützung bedurfte. 1879 schloßen das Deutsche Kaiserreich und Österreich-Ungarn ein gegen Russland und Frankreich gerichtetes Defensivbündnis, den Zweibund.
Die Große Orientalische Krise von 1875
Dem deutsch-österreichischen Bündnisabschluss vorausgegangen war eine erneute Krise im Orient. Hier war es 1875 doch noch zum Aufstand gegen die türkische Herrschaft gekommen. Er breitete sich von der Herzegowina bis nach Bulgarien aus und wurde von der osmanischen Zentralmacht gewaltsam unterdrückt. Damit hätte die Angelegenheit erledigt sein können. Jedoch verlangte die russische Öffentlichkeit vom Zarismus eine militärische Intervention. Hätte der Zar den Forderungen der Gesellschaft nicht nachgegeben, wäre auch seine innenpolitische Autorität schwer beschädigt worden. Eine Revolution wäre so wahrscheinlicher geworden. Hätte die russische Regierung aber wie gefordert eingegriffen, hätte sich eine europäische Koalition gegen sie gebildet. Diese zu besiegen war sie nicht in der Lage. Eine militärische Niederlage würde den revolutionären Kräften im Zarenreich nun ebenfalls Auftrieb gegeben. Der Zar befand sich in einem Dilemma.
Der Berliner Kongress 1878
Der Auswegwar ein begrenzter Feldzug gegen die Türkei und nach seinem Abschluss sollte auf die Bildung eines großbulgarischen Staats unter russischem Protektorat verzichtet werden. Dadurch wären die Interessen der anderen Großmächte nicht tangieren worden. Allerdings verlief der Krieg gegen die Osmanen von 1877/78 sehr erfolgreich und die russischen Truppen stießen bisvor Konstantinopel vor. Zar Alexander II. befand sich auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Hätte er nun auf die Schaffung von Großbulgarien verzichtet, wäre es zu einem abrupten Stimmungsumschwung in der russischen Öffentlichkeit gekommen. Dies wollte der Zar nicht riskieren und diktierte der Pforte daher im März 1878 den Frieden von San Stefano, der eben den großbulgarischen Staat begründete.
Dies rief nun Großbritannien und Österreich-Ungarn auf den Plan. Russland sah sich damit der befürchteten Koalition gegenüber. Um einer Niederlage zu entgehen, wandte sich St. Peterburg um Unterstützung an das Deutsche Reich. Dieses stellte sich aber hinter London und Wien. So kam Alexander II. nicht umhin, der Verkleinerung Bulgariens um zwei Drittel zuzustimmen. Auch sollte der Reststaat dem Osmanischen Reich gegenüber tributpflichtig bleiben. Rumänien, Serbien und Montenegro erhielten dagegen die Unabhängigkeit zugesprochen.
Die Dreikaiserpolitik
Der Ausgang der Berliner Verhandlungen wurde von der russischen Gesellschaft als schwere Niederlage empfunden. Die Enttäuschung verwandelte sich in Zorn, der sich gegen den Zaren richten konnte. Um dies zu verhindern, lenkte die amtliche russische Presse ihn gegen das als Verräter gebrandmarkte Deutsche Reich. Dessen Kanzler reagierte besonnen. So waren Bismarck die innenpolitischen Nöte der russischen Regierung bewusst. Ihm war klar, dass es sich allein durch außenpolitische Erfolge in Südosteuropa würde stabilisieren können. Daran war Bismarck interessiert, da seiner Überzeugung nach eine Revolution in Russland eine solche auch in Deutschland nach sich ziehen musste. Daher setzte er auf dem Berliner Kongress gegenüber Großbritannien und Österreich-Ungarn durch, dass der bulgarische Restsstaat zum russischen Protektorat wurde. St. Petersburg wiederum sollte auf dem Balkan eine rote Linie nicht überschreiten und die Meerengen für Russland tabu bleiben.
Tatsächlich akzeptierte die zaristische Regierung diese Position, so dass der Weg zum Abschluss des Dreikaiserbundes von 1881 frei war. Er stellte nämlich die Vereinigung des bulgarischen Fürstentums mit Ostrumelien unter russischer Ägide in Aussicht. Noch wichtiger verhinderte er aus Sicht der zaristischen Regierung das Abdriften des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns in eine gegen Russland gerichtete Koalition mit Großbritannien. Im Gegenzug verzichtete Russland auf die Annäherung an das mit Preußen-Deutschland verfeindete republikanische Frankreich.
Die Bulgarienkrise von 1885
Der russische Zugriff auf Bulgarien war indessen nicht unproblematisch. So scheiterte das Zarenreich an seiner wirtschaftlichen und politischen Durchdringung. Der bulgarische Fürst Alexander von Battenberg verselbständigte sich in der Folge zunehmend. 1885 gelang es ihm, Ostrumelien mit seinem Staat und ohne das Zutun Russlands zu vereinigen.
In St. Petersburg schrillten nun die die Alarmglocken. Es stand zu befürchten, dass sich Bulgarien aus dem russischen Einflussbereich lösen würde. Daher wurde ein Eingreifen nötig. Eine militärische Intervention hätte aber Bismarcks rote Linie überschritten und das Deutsche Reich unweigerlich in eine Koalition mit Großbritannien und Österreich-Ungarn geführt. Daher kam sie nicht in Frage. Russland musste sich also anderweitig um den Sturz Battenbergs bemühen.
Es zog daher seine Militärberater aus Bulgarien just zu dem Zeitpunkt zurück, als der Balkanstaat mit Serbien über Makedonien in den Krieg geriet. St. Petersburg hoffte auf die Niederlage Bulgariens, damit es wieder bei Russland um Schutz nachsuchen würde. Allerdings endete der kurze Krieg mit dem Sieg der Bulgaren, die sich damit des russischen Protektorates entgültig entledigen konnten: 1887 wählte die Sofioter Nationalversammlung den mit Österreich-Ungarn verbundenen Ferdinand von Sachsen-Coburg-Kohary 1887 zum neuen Fürsten.
Der Rückversicherungsvertrag
Das politische St. Petersburg fürchtete erneut den innenpolitischen Autoritätsverlust. Um ihn zu verhindern, griff es gegenüber Bulgarien nun doch zu militärischen Drohgebärden. Das Deutsche Reich konnte durch den Rückversicherungsvertrag von 1887 scheinbar aus der gegnerischen Phalanx herausgelöst werden. So verpflichtete es sich, sich einem russischen Militärengagement in Südosteuropa nicht zu widersetzen. Bismarck konterkarierte dieses Zugeständnis aber, indem er die Bildung der Mittelmeerentente aus Großbritannien, Österreich-Ungarn und Italien forcierte. Deren Zweck war es gerade, Russland auf dem Balkan entgegen zu treten. Gegen diese Übermacht chancenlos, brach die Regierung Alexanders III. ihre Bemühungen um Bulgarien ab.
Die russische Gesellschaft wendet sich gegen das Deutsche Reich
Der Fehlschlag in Bulgarien zerrüttete das Ansehen der zaristischen Regierung weiter. Er stellte darüber hinaus auch die Kooperation mit dem Deutschen Reich in Frage. Diese war in der russischen Öffentlichkeit ohnehin stets höchst unpopulär gewesen. So erblickte der Panslawismus gerade in Preußen-Deutschland den natürlichen Gegner Russlands. Er sollte im Bündnis mit Frankreich bekriegt werden. Entsprechend lancierte die russische Presse Kampagnen gegen Berlin. Sie fanden zunehmend nicht nur im russischen Unternehmertum Resonanz, sondern auch in Regierungskreisen.
Deutsch-russischer Zollkrieg
Indessen verschlechterten sich die deutsch-russischen Beziehungen auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Hier war Berlin seit den Einigungskriegen Haupthandelspartner und größter Kreditgeber Russlands. Dies wurde in dem Moment problematisch, als das Deutsche Reich begann, die Verschiebung des Kräfteverhältnisses in Europa zu eigenen Ungunsten zu fürchten. Bismarck begann, die russische Modernisierung zu torpedieren und versuchte, die Einnahmen des Zarenreicheszu minimieren. Dazu behinderte er den Absatz russischen Getreides in Deutschland und stellte auch die Kreditvergabe an St. Petersburg ein. Dies zwang Russland, sich erfolgreich um französische Leihgaben zu bemühen. Trotzdem hielt die Regierung des Zaren an engen Beziehungen zum Deutschen Reich fest, denn ein Bündnis mit Frankreich wäre dem mit Großbritannien verbündeten Zweibund unterlegen gewesen.
Der Ferne Osten nach dem Krimkrieg
Im Fernen Osten verfolgte Russland das Ziel, den einzigen in das eisfreie Meer mündenden sibirischen Strom, den Amur, nicht in die Hände einer fremden Großmacht fallen zu lassen. Dies wurde mit den beiden Opiumkriege der Briten gegen China virulent, so dass russische Truppen nach dem Ende des Krimkrieges vorsorglich das Amur-Gebiet besetzten. 1858/60 trat Peking nun das umstrittene Territorium ab. Hier gründete Russland wenig später Wladiwostok und bemühte sich um Handelsbeziehungen zur Mandschurei, Korea und Japan.
Mittelasien: Kokand, Buchara und Chiwa
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte Russland nach und nach Kasachstan unterworfen. Ab Mitte der 1860er Jahre widmete es sich dann der Eroberung der mittelasiatischen Khanate: Kokand fiel 1865, Buchara 1868 und Chiwa 1873. Durch diese Landnahme stärkte das Zarenreich seine Position gegenüber Persien sowie Afghanistan und bedrohte damit indirekt auch die britische Position in Indien. Ein Feldzug dorthin kam aber aufgrund der militärischen Kräfteverhältnisse nicht in Betracht. Jedoch konnte mit einem solchen geblufft werden. Damit, so die Hoffnung, ließen sich von London andernorts politische Zugeständnisse gewinnen.
Mittelasien: Turkmenistan
Parallel zu den Rückschlägen auf dem Balkan wandte sich St. Petersburg Turkmenistan zu und eroberte dort 1881 Gök Tepe sowie 1884 Merw. Beide Punkte bildeten das Vorfeld Herats. Dessen Besitz galt als entscheidend für einen möglichen Vorstoß auf Britisch-Indien. Großbritannien sah sich daher gezwungen, ganz Afghanistan unter seine Oberhoheit zu bringen. 1885 standen sich russische und britische Truppen an dessen Nordgrenze gegenüber. Indessen waren beide Seiten nicht an einem Krieg interessiert. So wurde 1887 die Bewahrung des Status quo vereinbart. Das Land am Hindukusch verblieb den Briten, Mittelasien hingegen den Russen.